Beginnen wir mit den Grundlagen: Jeder Mensch hat das Recht, in einem anderen Land um Asyl zu bitten.
Das bedeutet nicht, dass jeder einfach dort leben kann, wo er will. Nein. Es bedeutet, dass man das Recht hat, einen Asylantrag zu stellen, und dass die zuständigen Behörden den Einzelfall prüfen und in der Zwischenzeit eine menschenwürdige Behandlung gewährleisten müssen. Dies ist in den internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingsgesetzen sowie in der Europäischen Union in der EU-Grundrechtecharta verankert.
In den letzten Jahren scheinen viele Politiker*innen in der Europäischen Union diesen grundlegenden Punkt und die Verpflichtung der Behörden zur Wahrung dieser Rechte vergessen zu haben. Mit dem baldigen Amtsantritt einer neuen EU- Führungsriege bietet sich jedoch die Gelegenheit zum Umdenken - eine Chance, zu den Grundlagen zurückzukehren.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben in den letzten Jahren einige wirklich schreckliche Maßnahmen ergriffen. Viele Leser*innen werden sich an die "Lasst sie sterben"-Politik gegenüber Geflüchteten auf dem Mittelmeer erinnern. Behörden in EU-Ländern wie Griechenland und Polen haben humanitäre Hilfskräfte als Kriminelle behandelt, wenn sie verzweifelten Asylsuchenden helfen wollten.
Im EU-Mitgliedsland Kroatien haben die Behörden Asylbewerber an der Grenze physisch brutal behandelt, und zwar mit so schrecklichen Methoden, dass sie gegen das internationale Folterverbot verstoßen - und die EU schaute einfach weg.
Ein weiterer missbräuchlicher Ansatz, zu dem die EU-Regierungen zunehmend greifen, ist die so genannte "Externalisierung", "Auslagerung" oder das "Offshoring" in Drittländer, d. h. die Verbringung von Asylsuchenden zur Abfertigung in Länder außerhalb der EU. Die Behörden ignorieren ihre gesetzlichen Verpflichtungen und bezahlen andere Länder dafür, ihre Arbeit für sie zu erledigen.
Die EU-Mitgliedstaaten sind damit natürlich nicht allein. Erinnern Sie sich an Australiens missbräuchliche und teure Misserfolge beim "Offshoring" und an die grausamen und kostspieligen Versuche des Vereinigten Königreichs, Asylbewerber*innen nach Ruanda zu schicken.
In der EU haben mindestens 15 Mitgliedstaaten derartige Maßnahmen zur Verlagerung von Asylverfahren außerhalb des EU-Gebiets gebilligt. Ein bekanntes Beispiel ist Italiens fragwürdiges Abkommen mit Albanien. Das 700-Millionen-Euro-Programm setzt sich über die Rechte von Asylbewerber*innen hinweg, die sich in längerer Haft und rechtlicher Ungewissheit wiederfinden könnten.
Allerdings befinden wir uns jetzt - hoffentlich - an einem möglichen Wendepunkt in der Europäischen Union. Nach den jüngsten Europawahlen und der Neubildung der Europäischen Kommission (auch wenn einige altbekannte Gesichter dabei sein werden) bietet sich eine neue Gelegenheit, all diese Maßnahmen zu überdenken und die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu zu bringen, innerhalb der rechtlichen und moralischen Grenzen zu arbeiten.
In einer neuen Erklärung von 95 Menschenrechts- und humanitären Gruppen wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf die "Externalisierung" gelenkt. Darin werden die Staats- und Regierungschefs der EU daran erinnert, dass die Verbringung von Asylbewerber*innen zur Abfertigung in Länder außerhalb der EU nicht mit ihren internationalen und europäischen rechtlichen Verpflichtungen vereinbar ist.
Hoffen wir, dass die Staats- und Regierungschefs der EU diesen Moment nutzen, um sich in der Asylfrage wieder auf das Wesentliche zu besinnen und sich zur Achtung der Grundrechte zu verpflichten.